ÜBER DEN UMGANG MIT KONFLIKTEN, DEN RICHTIGEN ZEITPUNKT FÜR EINE PAARTHERAPIE UND MIT EINER KRITIK AN DER GESELLSCHAFTLICH VORHERRSCHENDEN BEZIEHUNGSVORSTELLUNG
Ein volles Bistro und ein gemeinsamer Tisch haben Anke Birnbaum und mich zusammen gebracht. Anke war mir nicht nur gleich sehr sympathisch, sondern auch ihr beruflicher Hintergrund weckte sofort meine Neugierde.
Anke hat an der Universität Lüneburg Bildungswissenschaften studiert, und zwar mit dem Schwerpunkt Psychologie und Beratung. Ihr Interesse wurde schnell spezifischer und es folgten diverse Aus- und Fortbildungen in Paartherapie und Sexualtherapie. Schon der Titel ihrer Promotion „Rituale im Alltag von Paaren“ lässt darauf schließen, dass Anke in ihrer Beratung Paaren einen Koffer wertvoller, wissenschaftlich fundierter Tools anbieten kann.
Beziehungsfähigkeit und Beziehungsfertigkeiten zu erlernen, das finde ich auch an meiner eigenen Arbeit mit KlientInnen wahnsinnig spannend. Und ich freue mich sehr, dass Anke zwischen der Arbeit in ihrer Praxis in Hamburg-Ottensen und ihrer Lehrtätigkeit Zeit gefunden hat, bei mir im Hohenesch auf eine kleine Gesprächsrunde vorbei zu schauen…
Anke, ich denke manchmal, dass es cool wäre, wenn man Kindern schon in der Schule mehr über ihren Körper beibringen könnte. Zum Beispiel: Wie fühlt sich eine Emotion wie Angst im Körper an und wie kann ich damit umgehen?
Gibt es auch Dinge, von denen Du denkst, dass Schüler sie schon in der Schule über Beziehungen lernen sollten?
Ich finde das Wichtigste ist: Gefühle haben Berechtigung.
Gefühle kannst Du nicht weg argumentieren.
Wenn jemand Angst hat, dann kannst Du ihm fünf Sachen aufzählen, warum er keine Angst zu haben braucht – er hat aber Angst! Es ist total wichtig zu akzeptieren, dass jeder unterschiedliche Stress- und Belastungsreaktionen hat.
Ich darf Angst haben, ich darf anders sein, obwohl die anderen mutig sind. Das ist okay.Man kann nicht sagen: „Deine Reaktion ist falsch, meine ist richtig.“
Um Toleranz und Akzeptanz entwickeln zu können, ist es wichtig zu verstehen: „Du bist nicht verkehrt, obwohl Du etwas anderes fühlst als ich – auch wenn wir dieselbe Situation erleben.“
Wenn Du EINE Sache allen Paaren beibringen könntest, was wäre das?
Du bist okay, ich bin okay – auch wenn wir eine Situation aufgrund unserer Sozialisation, Erziehung und unserer alten Beziehungserfahrungen komplett anders wahrnehmen. Wir erleben dieselbe Situation, die in uns beiden etwas Unterschiedliches auslöst. Das muss uns nicht verunsichern.
Darüber kann man staunen, anstatt sich gegenseitig abzuwerten.
Wenn zum Beispiel ein Partner dem anderen sagt: „Ich fühle mich unfair behandelt“, dann muss der andere Partner nicht mehrere Argumente aufzählen, warum das nicht sein kann. Verbindender ist es, den Partner stattdessen zu fragen: „Was genau fühlt sich unfair für dich an?“
Auf der argumentativen Ping-Pong-Ebene geht es so schnell nur noch darum, wer Recht hat und wer Unrecht. Wenn sich die Paare aber auf einer emotionalen Ebene begegnen, dann kann Verständigung und Wir-Gefühl entstehen.
Wie gehst Du damit um, wenn einer der Partner eine sehr starke emotionale Reaktion hat, sich z.B. sehr schnell gekränkt fühlt. Würdest Du sagen, dass das eine unangemessen starke emotionale Reaktion ist, die derjenige verändern sollte?
Ich bewerte nicht, was unangemessen ist. Jeder hat einen guten Grund für seine Gefühle. Damit hat auch jeder gute Gründe für sein Handeln. Das Verhalten wird ja durch Gefühle gelenkt. Was angemessen ist und was nicht, das müssen die Paare miteinander aushandeln.
Wenn ein Partner sagt: „Du löst mit Deinem Verhalten etwas aus, das mir Angst macht“, dann ist das erst einmal wichtig, dass der andere das weiß und toleriert.
Was ich mit den Paaren erarbeite ist eine Form von Akzeptanz. Die beiden Partner können sich selbst besser kennenlernen und fragen: „Warum reagiere ich, warum du, in bestimmten Situationen so vehement?“
Manchmal erlebt ein Partner mit dem anderen etwas, das auch eine Form der Reinszenierung sein kann. Gedanken aus früheren Situationen werden wieder angestoßen.
Über die alten Gedanken entstehen wiederum alte Gefühle.
Es kommt somit nicht selten vor, dass ein Partner Gefühle auf den anderen projiziert, die dieser mit seinem Verhalten zwar auslösen kann, aber nicht beabsichtigt oder sich der Wirkung nicht bewusst ist.
Und in so einer Situation ist erst einmal wichtig, dass jeder auch bereit ist, dem anderen zuzuhören, das Gesagte nicht zu relativieren oder gar abzuwerten.
Wichtig ist gleichzeitig auch, dass derjenige, der diese heftigen emotionalen Reaktionen in sich erlebt, selbst in eine innere Distanz zu diesen Emotionen kommt. „Stop! Vielleicht ist das hier gerade wieder meine alte Baustelle, die aktiviert wird.“
Ich versuche Paaren dabei zu helfen, einen wohlwollenderen Umgang mit den Stressreaktionen des jeweils anderen zu finden. Und dann fallen die Reaktionen oftmals schon nicht mehr so stark aus. Wenn die Partner besser verstehen können, warum der jeweils andere so reagiert, können sie erkennen, dass sich das Verhalten des anderen nicht zwingend gegen sie richtet und können bestenfalls gelassener damit umgehen.
Fällt Dir ein Beispiel für so eine „klassische“ heftige emotionale Reaktion ein?
Ja, z.B. bei Menschen, die eine Trennung ihrer Eltern erlebt haben, kann es zu einer Aktivierung von „Schuldgefühlen“ kommen.
Wenn der Partner eine Belastung äußert, können sich diese Menschen schnell verantwortlich fühlen und rechtfertigen sich sofort, um deutlich zu machen, dass sie unschuldig an der Belastung des anderen sind. Es kann so schwer sein, über kritische Dinge oder Schwierigkeiten zu sprechen und Lösungen dafür zu entwickeln.
Im Zusammenleben kann es also sehr hilfreich sein, wenn der andere Partner nicht direkt gereizt auf geäußerte Schwierigkeiten oder Kritik reagiert. Doch stattdessen schaukeln sich Paare an einem solchen Punkt innerhalb von Sekunden hoch.
Das heißt im Idealfall bedeutet diese Akzeptanzarbeit, dass die Paare sich zum einen darauf einlassen, selber zu ihren eigenen heftigen emotionalen Reaktionen in Distanz zu gehen, und zum anderen, die wunden Punkten des anderen wahrzunehmen und nicht noch extra auf die Knöpfe zu drücken?
Die wunden Punkte des anderen nicht noch wunder zu machen, ist das Eine. Aber nicht nur der Partner muss sich auf die wunden Punkte des jeweils anderen einstellen.
Wenn ich mich selbst einzuschätzen lerne und verstehe, wo gewisse alte Gedanken und Gefühle ihre Wurzeln haben, hilft es auch, nicht selbst noch die eigenen wunden Punkte anzusteuern und mich in einigen Situationen besser von ihnen zu distanzieren.
Diese Form der Akzeptanzarbeit muss bei beiden Partnern passieren. Von nur einer Seite bringt es meist wenig. Wenn es heißt: „So bin ich halt, nimm mich so wie ich bin“, dann ist dies natürlich wenig fruchtbar für eine Beziehung.
Und wenn beide Partner diese Schritte mitgehen, dann haben sie gute Chancen, miteinander in Beziehung zu bleiben?
Bessere Chancen auf jeden Fall.
Das funktioniert ja aber nicht immer… Was ist denn ein guter Grund für eine Trennung?
Es gibt vielfache gute Gründe für eine Trennung. Ebenso viele gute Gründe, um zu bleiben.
Was unterscheidet denn Paare, die das Miteinander wieder hin bekommen von denen, die es nicht wieder finden?
Wenn Paare schon tief in der gegenseitigen Abwertung stecken und die Persönlichkeit des anderen als das Problem empfinden, kann es sehr schwierig sein, sich noch einmal wohlwollend und verständigungsbereit auf den anderen einzulassen. Paare, die (neu) entdecken können, dass gewisse Situationen und Verhaltensweisen konflikthaft sind, haben gute Chancen. Dazu gehört meistens auch, sich selbst als Teil der Problemlösungen zu begreifen.
Wann kommen Paare in der Regel zu dir – und wann sollten sie kommen?
Paare suchen in den meisten Fällen zu spät Unterstützung und sollten oftmals früher kommen – bevor sich das Streitverhalten negativ verfestigt hat
Und woran kann man als Paar den richtigen Zeitpunkt erkennen?
Paare sollten eine Paartherapie aufsuchen, wenn die Konflikte chronisch werden. Wenn die Streitintensität über eine längere Zeit deutlich zunimmt. Wenn sie sich sehr stark gegenseitig aufschaukeln, das Eskalationsniveau also sehr hoch ist. Wenn die Partner merken, dass sie immer wieder über dieselben Themen streiten und weder zu einer Lösung kommen noch zu einer Toleranz, dass es eben auch Probleme gibt, die nicht lösbar sind.
Je früher Paare sich Unterstützung suchen, desto höher sind die Chancen, dass sie ihre Probleme bewältigen können. Sind die Kommunikationsmuster erst einmal zu Automatismen geworden, kann es wesentlich schwieriger sein, aus diesen auszubrechen.
Da Du in Zürich an der Hochschule lehrst, arbeitest Du auch viel mit Schweizer Paaren. Gibt es da irgendwelche „paar-kulturellen“ Unterschiede zu Deutschland?
Ja, die gibt es aus meiner Sicht schon an einigen Stellen. Schweizer Paare haben oftmals ein höheres Bewusstsein für Prävention. Sie haben scheinbar weniger Berührungsängste und es fällt ihnen dadurch auch leichter, sich Unterstützung zu holen. Ich möchte damit nicht ausdrücken, dass alle Paare präventiv etwas für ihre Beziehung tun müssen, aber: „Seid mutiger, frühzeitig Hilfe in Anspruch zu nehmen.“
Ich hatte kürzlich ein Schweizer Paar bei mir, das wiederholt am Anfang einer neuen Lebensphase in die Beratung zu mir kommt. Der Mann sagte auf meine Frage nach den Gründen für eine Paarberatung sehr eindrücklich:
„Das wäre doch komisch, wenn ich im Beruf ein Coaching in Anspruch nehme, sobald ich nicht weiter komme, aber nicht in meinem wichtigsten Lebensprojekt!“
Das erste Coaching bei mir hatten die beiden beim Übergang vom Studium zum Beruf, das zweite vor der Hochzeit, das dritte vor dem ersten Kind. Im letzten Coaching stand die anstehende Geburt von Zwillingen im Mittelpunkt der Gespräche.
Dieses Paar weiß, dass stressige Momente auf sie zu kommen. Und unter Stress leidet die Kommunikation massiv. Die Partner wollen besser absichern, dass sie auch unter Stressbedingungen möglichst positiv miteinander kommunizieren und auf sich als Paar aufpassen können.
Sie gleichen dafür frühzeitig ihre Erwartungen ab, bevor es zu schmerzlichen Erwartungsenttäuschungen kommt. Wo stehst du und wo stehe ich? Was für Ideen können wir entwickeln, damit uns das Ganze nicht um die Ohren fliegt? Das muss dann nicht immer hundertprozentig so eintreffen. Die gemeinsame Vision ist wichtig.
Die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit ist das bitterste für Paarbeziehungen. Und Paare können dafür sorgen, dass diese Kluft nicht so massiv tief wird.
Was ist eine Sache die Du Paaren, die Eltern werden, gerne mitgeben würdest?
Kurz und knapp? Bleibt Paar.
Es ist schön, dass ihr Eltern werdet. Nehmt euch dennoch frühestmöglich auch wieder Raum für euch als Partner. Lasst euch von eurem Netzwerk helfen und nutzt auch kleine Zeitfenster.
Frühestmöglich?
Ja, weil Paare vor gut gemeinter Fürsorge leider oftmals lange den Blick auf sich verlieren und es dann sogar „verlernen“ können..
Es gibt natürlich eine Zeit, in der es äußerst wichtig ist, umfassend für das Kind da zu sein. Es gibt Zeiten, in denen der Raum für Zweisamkeit natürlich deutlich kleiner ist. Aber viele Paare behaupten noch nach vier, fünf Jahren: „Es war für uns die letzten Jahre nicht möglich, Zeit zu zweit miteinander zu verbringen.“
Ich bin der festen Überzeugung, dass es zwar schwierig ist und anfangs einer Menge Organisationsaufwand bedarf; dennoch sind der Wille und das Engagement füreinander entscheidend.
Beziehungsarbeit ist anstrengend. Aber sie lohnt sich.
Hast du eine Kritik an der gerade vorherrschenden gesellschaftlichen Beziehungsvorstellung? Kannst Du formulieren, was Du da vielleicht ungesund findest oder mit zu viel Druck belegt?
Dazu könnte ich sehr weit ausholen. Ich glaube, dass Partnerschaft heutzutage gnadenlos überlastet ist mit Erwartungen.
Viele Paare wollen alles.
Die Partner wollen Zeit für sich selbst und sich selbst verwirklichen. Im Beruf. Und privat. Eltern sein. Haus bauen. Sport machen. Gesund ernähren. Zeit mit Freunden verbringen.
Es gibt eine meines Erachtens zu geringe Toleranzschwelle dafür, dass bestimmte Wünsche in Partnerschaft und Familienleben unerfüllt bleiben müssen.
Wo kommt denn diese Idee her, dass die Partnerschaft so erfüllend sein muss?
Aus meiner Sicht hängt dies zu einem großen Teil mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Trend zusammen.
Alles muss optimiert werden.
Inzwischen gibt es sogar zahlreiche Glücksseminare und in ersten Schulen sogar das Unterrichtsfach „Glück“. Der Anspruch, der daraus erwachsen kann: Ich muss immer glücklich sein, ich muss immer zufrieden sein. Ein hoher Druck.
Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung sind wünschenswert. Aber ich habe manchmal das Gefühl, dass Autonomie mit Autismus verwechselt wird.
Das Leben in einer Partnerschaft ist nicht immer fair zu regeln. Gerechtigkeit ist manchmal nicht möglich. Damit muss man sich als Paar arrangieren lernen und zu anderen Zeitpunkten wieder in einen Ausgleich kommen. Dies müssen natürlich beide Partner im Blick haben; wir können uns nicht dauerhaft auf Kosten des Partners selbst verwirklichen, ohne einen hohen Preis dafür zu zahlen.
Oftmals vermeiden Paare Konflikte darüber. Dabei sind Konflikte und auch Krisen doch das, was Paare weiterbringt und wirklich stark macht. Das wird verkannt.
Das gilt genauso für den Einzelnen. Es ist schwer, seinen eigenen unangenehmen Gefühlen dankbar zu begegnen, obwohl sie meist die besten und tiefsten Lektionen über das eigene Selbst bereit halten!
Und ich stimme auch mit Dir überein, was diese gesellschaftliche Tendenz angeht, dass das normale Level an Einsamkeit, Unsicherheit oder Aggression, welches das lebendig Sein so mit sich bringt, als Problem aufgefasst wird, das gelöst werden muss.
Das Leben ist stets konflikthaft, kann ungerecht und ambivalent sein. Konflikte sind absolut normal. Entscheidend ist der Umgang mit ihnen.
Da wo Reibung ist, ist Wärme. Und wenn ich so eine akzeptierende innere Haltung zu Konflikten habe, dann gestalten sich diese oftmals auch viel entspannter und sind weniger bedrohlich.
Danke Dir, liebe Anke! Ich habe noch ein paar Fragen auf meinem Zettel und würde mich freuen, wenn wir in nicht allzu ferner Zukunft noch eine zweite Gesprächsrunde machen könnten.
Ja, gerne!
Hat Euch das Interview gefallen? Dann schickt es doch gerne weiter an jemanden, von dem ihr glaubt, dass er auch davon profitieren könnte. Oder teilt es auf Facebook. Es würde mich sehr freuen, wenn es den Weg zu vielen Menschen fände!
Wenn ihr Einsichten habt, die ihr gerne mit mir teilen wollt, oder auch Fragen an Anke und mich für die nächste Gesprächsrunde – schreibt mir gern eine Mail! Ich mag zwar keine öffentlichen Kommentarfunktionen, aber ich liebe Resonanz!
Und wenn Ihr mehr über Anke Birnbaums Arbeit erfahren oder mit ihr in Kontakt treten wollt, dann findet ihr auf ihrer Webseite paarconsulting.de alles, was ihr braucht! Neben Einzel- & Paarberatungen bietet Anke in ihrer Praxis in Hamburg-Ottensen auch Familientherapie und Trainingsseminare für Paare an.
FOTO: Jared Sluyter UNSPLASH